Frau und Mann: Rollen weiter wechseln

Ist die Revolution der Gleichberechtigung auf allen Ebenen schon erreicht, sogar abgeschlossen und ist eine vollkommene Auflösung der Geschlechterrollen wirklich realistisch? Funktioniert sie auch? Und im weiteren Schritt die Frage: Ist sie letztlich tatsächlich sinnvoll?
Figuren von Mann und Frau

Folgend werden die persönlichen Erfahrungen und Meinungen eines Mitglieds von Viamor wiedergegeben...

Ich möchte diesen Text über das Thema Rollenverteilungen von Mann und Frau, über langjährige Klischees und festgefahrene Erwartungen mit einem humorvollen, bewusst überspitzten und glossenhaften Abschnitt beginnen.     
Als moderner Mann, habe ich mal in einem schlauen Aufsatz gelesen, muss man für alles offen sein – zum Beispiel für Autogenes Training. Was ich in der ersten Übungsstunde erlebt habe? Bitte sehr, ich verrate es: Ich warf der einzige männliche Vertreter der 12-köpfigen Gruppe. Selbst der Kursleiter war eine Frau mit Bürstenschnitt. Die musterte mich verwundert, als ich den Übungsraum betrat. Ich sah irgendwie anders aus als meine Mitstreiterinnen. Sie trugen weder eine Sporthose, noch ein Trikot wie ich, sondern eine weitgeschnittene, normale Freizeithose, Pullover und dicke, bunte Wollsocken. 
Egal, dachte ich mir, von mir aus könne es losgehen. Allerdings war ich mir selbst nach einer Viertelstunde nicht sicher, ob das Autogene Training tatsächlich begonnen hatte. Ich lag wie alle anderen auf dem Rücken, die Beine ausgestreckt, die Hände am Körper angelegt. Die Augen geschlossen. Ich hörte lediglich ab und zu die Stimme der Kursleiterin, sie hieß Hildegard. Sie hatte den Befehl gegeben, Farben zu sehen. Eine rote, eine blaue, eine grüne, eine violette. Welche davon, hatte Hildegard gesagt, ist völlig egal. Wichtig sei, dass man überhaupt Farben sehe.
Ich sah keine. Schließlich hatte ich meine Augen fest zusammengekniffen. Und da verhielt es sich bei mir immer so, dass ich nur Schwarz sah. Das aber war ja nicht wirklich eine Farbe. 
„Und, meine Lieben, welche Farben könnt ihr erkennen?“ Kaum hatte Hildegard ihre Frage gestellt, drangen die ersten Antworten an mein Ohr. Ein zartes Rosa wollte eine erkannt haben, eine andere behauptete einen Mix aus Lila, Blau und Pink gesehen zu haben. Es folgten die Farben Giftgrün, Zitronengelb, Feuerrot und Marineblau. Ich war mir sicher, dass die Frauen schwindelten. Weshalb sollten sie etwas sehen, was mir gänzlich verborgen geblieben war?

Buntstifte in allen Farben
„Und, was hast du gesehen?“ Ich zuckte zusammen, denn ich merkte, dass die Frage mir galt. Allein dieses vertrauliche Du, auf das wir uns geeinigt hatten, oder besser: auf Drängen von Hildegard einigen mussten, wirkte auf mich keinesfalls beruhigend, sondern eher störend.
 Was sollte ich ihr antworten? Dass ich ein deutliches Pechschwarz vor Augen hatte? Dass ich den Wahrheitsgehalt der Antworten meiner weiblichen Kurskollegen aufs Entschiedenste anzweifelte? Dass ich mir drittens beim besten Willen nicht erklären konnte, was das Ganze für einen Sinn haben sollte?
 „Also, meine Farbe ist nicht so leicht zu erkennen. Es ist eine sehr dunkle Farbe“, stammelte ich.
 „Ein tiefes Dunkelblau…“, wollte mir Hildegard auf die Sprünge helfen.
 Ich war nun vollends verunsichert, und plötzlich machten sich diese Gedanken in meinem Kopf breit: Vielleicht hatte Hildegard eine Liste in ihrer Tasche, die sie gleich herausziehen würde. Darauf könnte sie in einer Art Diagramm bei den Koordinaten „Mann um die 50“ und „tiefes Dunkelblau“ womöglich zum Ergebnis kommen: aggressiver Typ, der seine Frau schlägt…
   „Nein, so tief ist das Dunkelblau, das ich sehe, gar nicht“, antwortete ich hastig. „Es geht eher in ein freundliches Blau über, eine Art Azurblau vielleicht.“

 „Azurblau ist aber ein eher tiefblauer Farbton“: Bürstenschnitt-Hildegard konnte ich offensichtlich kein A für ein U vormachen, und kleinbeigeben war ihre Sache offensichtlich auch nicht.   
 „Na ja, dann ist es kein Azurblau, sondern eher ein Ultramarinblau. Eine Art Königsblau.“ Diese Farbe schien mir allein vom Namen her unverfänglich zu sein. Daraus, war ich mir sicher, könnte mir Hildegard in menschlicher Hinsicht keinen Strick drehen.
 „Toll, wie du dich fallen lassen kannst und wie sensibel du bist. Dickes Kompliment, dass du die Farben so klar und deutlich erkennen und auch bestimmen kannst. Das ist bei Männern selten der Fall. Die antworten meistens, dass sie nur Schwarz sehen.“ Das anerkennende Raunen der anderen Teilnehmerinnen war unüberhörbar.
 Und sage mir ja keiner mehr, Autogenes Training sei nur etwas für Frauen…

Mann und Frau bei der Meditation
Was diese Geschichte, die sich sicherlich an mehreren Orten einer modernen Welt so oder so ähnlich und mit vergleichbaren Gefühlen auf beiden geschlechtlichen Seiten abspielen könnte, klar machen will? Dass wir noch oft in Geschlechterrollen denken. Uns noch immer wie selbstverständlich einordnen. Frauen belegen Kurse zum Autogenen Training, Männer gehen ins Krafttraining. Frauen besorgen für den gemütlichen Mädels-Abend Schokolade und Prosecco, Männer hingegen Chips und Bier. Frauen lehnen sich in der Disco genüsslich zurück, Männer fordern auf zum Tanzen. Frauen warten auf Dating-Portalen erst mal ab mit Schreiben, schließlich haben die Männer den ersten Schritt einer Kontaktaufnahme zu tun.

Die Revolution der Gleichberechtigung auf allen Ebenen ist so gesehen noch lange nicht abgeschlossen. Wobei durchaus die Frage gestellt werden darf: Ist eine vollkommene Auflösung der Geschlechterrollen wirklich realistisch?  Funktioniert sie auch? Und im weiteren Schritt die Frage: Ist sie letztlich tatsächlich sinnvoll?   



Wir Menschen neigen oft zur Übertreibung. Sprechen sehr schnell von einem Chaos, einer Sensation, einer Katastrophe…selbst dann, wenn das Kind noch lange nicht in den Brunnen gefallen ist. Wir treiben gerne vieles auf die Spitze und vergessen mitunter diesen Spruch: Weniger ist manchmal mehr. 

Mein persönlicher Standpunkt: Mittelwege führen oft auch zum Ziel, Kompromisse sind mitunter die bessere Lösung, Geduld ist kein schlechter Begleiter. Auf die glossenhafte Geschichte vom Anfang bezogen: Männer können beim Autogenen Training ruhig ein bisschen anders angezogen sein als die Frauen. Aber es wäre nicht verkehrt, dass ein Kurs mit mehr als nur einem Mann besetzt ist.  
Autor*in: Anonymes Mitglied von Viamor

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